Der WSIS und die Herausforderung durch Software

Georg C.F. Greve
Präsident der Free Software Foundation Europe (FSFE)


Einführung: Die Bedeutung von Software in unserer digitalen Welt

Software gilt als codifizierte Macht für den digitalen Lebensbereich. Mit den Worten des Professors Lawrence Lessig, Stanford, ausgedrückt: Code ist ein Regulierungsmittel, das den virtuellen Raum in vielerlei Hinsicht so beherrscht, wie es Gesetze in der realen Welt tun.

In der nördlichen Hemisphäre sind die meisten Menschen für grundlegende Aufgaben der Kommunikation, der Bildung und der Arbeitswelt bereits auf Software angewiesen. Der Grad der Abhängigkeit ist heute auf der südlichen Halbkugel im Allgemeinen geringer. Wenn aber die digitalen Bildungs- und Integrationsprojekte den erwünschten Effekt erzielen, so wird die Abhängigkeit im Süden genauso hoch, wenn nicht gar höher sein, weil viele Regionen vorhaben, die Zwischenschritte über die analoge Infrastruktur zu überspringen und direkt in die digitale Welt einzutreten.

Ein Großteil dieser Interaktion mit und die Abhängigkeit von Software bleibt jedoch unreflektiert und praktisch unbemerkt und erfüllt damit eine Vorhersage des MIT-Professors Weizenbaum, die dieser vor vielen Jahren gemacht hat: die Mehrheit der Anwender sind sich nicht bewusst, dass sie Software verwenden, solange sie nicht vor einem Gerät sitzen, das explizit als "Computer" bezeicht wird. Ein gutes Beispiel dafür sind Mobiltelefone. Der Trend zum "ambient computing", also die Erweiterung der Lebens- und Arbeitsumgebung mit Elektronik und vernetzten Softwareagenten, wird diese Entwicklung zunehmend verstärken.

Während der Zugang zu Software über unsere Fähigkeit entscheidet, an der digitalen Gesellschaft teilhaben zu können und unsere Möglichkeiten bei Kommunikation, Bildung und Beruf entscheidend bestimmt, stellt Software gleichzeitig auch ein Reservoir von in Programmcode gegossenen Fertigkeiten dar.

Software ermöglicht es der Menschheit, kollektiv Fähigkeiten zu erlernen, zu verbessern und zu nützen, die ein einzelner Mensch niemals erlangen könnte.

Ein Beispiel dafür sind grafische Anwendungen, die bei einer komplexen Bildverarbeitungsaufgabe schwierige mathematische Transformationen wie die schnelle Fouriertransformation (FFT) für jeden Menschen verwendbar machen, der zumindest die Menüsymbole der entsprechenden Anwendung versteht.

Obwohl die Fragen rund um Software zentral mit vielen Angelegenheiten zusammenhängen, die auf dem "Weltgipfel zur Informationsgesellschaft" (WSIS) erörtert werden, wird die Lage darüber hinaus verkompliziert, indem allgemein nicht verstanden wird, dass Software die Kulturtechnik des digitalen Zeitalters darstellt.

Konflikt der Softwaremodelle

Während die meisten Regierungen Software nur einseitig aus einer ökonomischen Perspektive betrachten, beginnen einige große Industrieunternehmen, die politische Macht zu verstehen, die in Software steckt. In dem sie Software zu Eigentum machen, erhalten sie absolute Macht über die Anwender, seien es Privatpersonen, andere Firmen oder Regierungen. Sie erstellen dann die Spielregeln, denen sich die anderen unterordnen müssen.

Proprietäre Software verbleibt immer unter der Kontrolle des Lizenzgebers der Software, nicht des Anwenders. In unserer vernetzten Welt kann diese Kontrolle sogar aus der Ferne ausgeübt werden, unabhängig davon, ob der Anwender der Software eine Person oder eine Regierung ist.

Diese Abhängigkeit von proprietärer Software ist virulent.

Protokolle werden geheimgehalten und Standards werden gebrochen. Die Protokolle sind nicht geheim weil sie so wertvoll sind, sondern ihr Wert entsteht erst aus der Geheimhaltung. Die Firma Microsoft liefert ein sehr gutes Beispiel für beide Fälle, wie das europäische Kartellrechtsverfahren Modifizierung des Kerberos Standards gezeigt haben.

Das Gegenmodell zu proprietärer Software basiert darauf, diese Abhängigkeit aufzulösen und die Macht gleichberechtigt in die Hände aller Menschen zu legen. Sie ist definiert durch die vier fundamentalen Freiheiten: die Freiheit, Software uneingeschränkt und für jeden Zweck zu benutzen, die Freiheit, die Software zu untersuchen, die Freiheit, die Software zu verändern, und die Freiheit, die Software sowohl in der veränderten als auch der ursprünglichen Form weiterzugeben.

Der ursprüngliche Name dieses Modells ist Freie Software. Manchmal wird es auch als "Open Source" bezeichnet, ein Vermarktungsbegriff, der 1998 vorgeschlagen wurde, um Risikokapital anzulocken. Heute wird dieser Begriff regelmäßig missbraucht, proprietäre Software unter dem Schein Freier Software zu verkaufen.

Andere häufig verwendete Synonyme sind "FOSS" ("Free and Open Source Software") und "FLOSS" ("Free, Libre and Open Source Software"). Dabei handelt es sich um redundante Begriffe, die jedoch die Idee verbreiten sollen, dass Software nicht als politisches Thema zu betrachten ist.

Da also alle diese Begriffe Synonyme sind, wird in diesem Papier der Klarheit wegen die ursprüngliche Bezeichnung, Freie Software, gewählt.

Freie Software auf der WSIS

Richtig einbezogen wurden Freie-Software-Gruppen bei der WSIS während des Intersessional Meeting in Paris im Juli 2003. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Befürworter proprietärer Software die politischen Aspekte rund um Software beinahe vollständig aus den Dokumenten beseitigen können, indem sie diese Fragen als rein technische Entscheidungen der Softwareentwicklung darstellten.

In den Zivilgesellschaften war Software ein Thema der Patents, Copyrights and Trademarks (PCT) Working Group. Diese Arbeitsgruppe beschäftigte sich mit zentralen Fragestellungen rund um Geistige Enteignung ebenso wie um gleichen und allgemeinen Zugriff auf Software, der digitalen Kulturtechnik.

Durch eine konzertierte Aktion zwischen der PCT-Arbeitsgruppe und einer Handvoll Regierungen - besonders der brasilianischen - war es möglich, die weitere Erosion von Softwarefragen aus den Dokumenten zu verhindern und den Trend umzukehren.

Dieser positive Trend konnte während der folgenden Beratungskonferenzen ("Preparatory Committee Conferences") fortgesetzt werden, wobei Freie Software und Patente, Copyrights und Trademarks (PCT) unter den am kontroversesten diskutierten Themen waren.

Während es im Verlauf des Weltgipfels weiterhin einen Dialog innerhalb der Zivilgesellschaften gab, um den Zusammenhang zwischen Freier Software und anderen Fragen der Zivilgesellschaft zu erklären, setzte sich die globale Zivilgesellaft durch einen durch die PCT-Arbeitsgruppe eingebrachten Antrag beim WSIS dafür ein, eine klare Stellung zur Softwarefrage im Allgemeinen und Freier Software im Speziellen zu beziehen:

"Software ist das Medium unseres digitalen Lebensbereichs, und es strukturiert unser Dasein darin. Das Informationszeitalter wird sich darauf stützen. Freie Software ist als ein rein technisches Entwicklungsmodell gebrandmarkt worden, aber sie ist viel mehr als das. Sie ist ein Beispiel welches Chancen und Freiheiten gleichermaßen für Regierungen, Wirtschaft und die Zivilgesellschaft sicherstellt. Sie stellt ein wahrlich nachhaltiges Modell für alle Bereiche der Gesellschaft bereit, bringt den Wettbewerb zurück und fördert Innovation für eine florierende und miteinbeziehende Informations- und Wissensgesellschaft für jedermann."

Später wurde Freie Software als eine essentielle Orientierungsmarke gewählt:

"Software ist eine Kulturtechnik des digitalen Zeitalters und Zugang zu ihr schreibt fest, wer an der digitalen Welt teilnehmen kann. Freie Software mit ihren Freiheiten der uneingeschränkten Benutzung, des Studiums, der Modifikation und Weitergabe ist ein unentbehrlicher Baustein für eine bevollmächtigte, zukunftsfähige und miteinbeziehende Informationsgesellschaft. Kein Softwareentwicklungsmodell sollte verboten oder benachteiligt werden, aber Freie Software sollte für ihre einzigartigen sozialen, bildenden, wissenschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Vorteile und Gelegenheiten gefördert werden."

Trotz des massiven Auftretens von Unterstützern proprietärer Software aus Industrie und einigen Regierungen, speziell der Vereinigten Staaten und europäische Staaten wie etwa Großbritanniens, konnten die politischen Folgen und Auswirkungen von Software nicht weiter verleugnet werden.

In der angenommenen Abschlussversion wurde in sowohl der Prinzipienerklärung (Declaration of Principles) als auch im Aktionsplan (Plan of Actions), der Begriff des "Softwaremodells" aufgenommen, und der Aktionsplan ruft alle Regierungen dazu auf, "die Wissenschaft zu Forschungen zu ermutigen und Bewusstsein unter allen Interessengruppen für die Möglichkeiten zu eröffnen, die sich durch verschiedene Softwaremodelle ergeben, [...]"

Nach dem Weltgipfel

Freie Software erhielt während des WSIS eine große Aufmerksamkeit, aber obwohl die Zivilgesellschaft sie weithin als ein grundlegendes Prinzip angenommen hat, benutzen viele Organisationen ihrerseits immer noch proprietäre Software. Der Effekt dieser Praxis auf Entwicklungsländer war zwar noch kein Gegenstand tieferer Untersuchungen, dennoch dürfte mit ernsthaften Konsequenzen zu rechnen sein.

Der psychologische Schaden für Organisationen, die andere dazu auffordern, bestimmten Richtlinien zu folgen, die sie jedoch selbst ignorieren, fällt dabei stark ins Gewicht. Besonders in Ländern der südlichen Hemisphäre kann dies sehr leicht den Eindruck erwecken, die reichen Ländern speisen sie mit Brotkrumen ab, während sie sich selbst die vermeintlich wertvolleren Dinge sichern. Das wäre tragisch, denn das Gegenteil entspricht den Tatsachen.

Noch schädlicher als das wäre es, wenn die Organisationen die Benutzung von proprietärer Software vormachten, oder gar die Benutzung von proprietärer Software in der südlichen Hemisphäre zu rechtfertigen versuchten: damit würden sie den Effekt ihrer Arbeit unfreiwillig selbst zerstören.

Statt, wie beabsichtigt, die südlichen Ländern von der Abhängigkeit vom Norden zu befreien und die Demokratie zu stärken, bewirken sie das Gegenteil. Um scheinbare kurzfristige Verbesserungen der Situation zu bewirken, erzeugen sie mittelfristig große Hürden für die Teilnahme an der Informationsgesellschaft.

Aus diesen Gründen hat Sergio Amadeu da Silveira, der Präsident des Nationalen Institutes für Informationstechnologien (ITI) in Brasilien, das proprietäre Softwaremodell mit dem Handeln von Drogendealern verglichen: der erste Schuss ist gratis.

Obwohl sehr viele Fortschritte gemacht wurden, gilt es daher, die Entwicklung auf allen Seiten weiter voranzutreiben: bei Regierungen, Industrie und Zivilgesellschaft. Wie bereits in der Prinzipienerklärung und im Aktionsplan festgeschrieben, müssen jetzt alle Seiten daran arbeiten, neben den technischen Möglichkeiten auch noch die politischen, sozialen und ökonomischen Seiten von Software zu untersuchen.

Wollen Regierungen ihre politische Unabhängigkeit und demokratische Basis aufrechterhalten, so werden sie ernsthafte Anstrengungen für die ökonomische und soziale Stärkung ihrer Länder auf der Basis von kommerzieller und nicht-kommerzieller Freier Software unternehmen müssen. Um ihre kommerziellen Interessen zu schützen, muss die Freie-Software-Industrie ein Gegengewicht zu den Stimmen der proprietären Software herstellen. Schließlich muss die Zivilgesellschaft der Aufrechterhaltung ihrer Glaubwürdigkeit wegen Freie Software sowohl konsequent nutzen als auch als ihr Fürsprecher auftreten.

Dieser Artikel wurde im englischen Orginal veröffentlicht in:
ICT Task Force Series 8 (2005):
The World Summit on the Information Society -- Moving from the Past into the Future.
Opening Statement by Kofi Annan, Preface by Yoshio Utsumi
Edited by Daniel Stauffacher and Wolfgang Kleinwächter