FSFE: Europäische Kommission gibt unter dem Druck proprietärer Lobbyisten bei Interoperabilität nach
Freie-Software-Industrie kritisiert Anmerkungen des Vizepräsidenten der Kommission Siim Kallas
Die Europäische Kommission hat den Forderungen der Lobbyisten von Microsoft und SAP Folge geleistet, als sie ein wichtiges Dokument über Interoperabilität zwischen eGovernment-Diensten überarbeitete. Die Free Software Foundation Europe (FSFE) untersuchte die Entwicklung einer neuen Version des Europäischen Rahmenprogramms zu Interoperabilität (EIF) und konnte zeigen, dass die Kommission sich bei ihrer Arbeit auf die Einreichungen der Business Software Alliance (BSA), einer Lobbygruppe für Hersteller proprietärer Software, stützte und die Stimmen eines Großteils der europäischen Softwareindustrie ignorierte. Zur gleichen Zeit deuten Bemerkungen des Vizepräsidenten der Kommission zu Freier Software auf einen besorgniserregenden Mangel an Interesse innerhalb der Kommission hin.
Ein Entwurf für eine Revision des Europäischen Rahmenprogramms zu Interoperabilität (EIF) drang am Anfang des Monats zur Presse durch. Während die frühere Version des Dokuments die Nutzung Freier Software und Offener Standards im öffentlichen Sektor stark befürwortete, beinhaltet die neue Version lediglich die bedeutungslose Floskel eines "Offenheitskontinuums", das absurderweise proprietäre Spezifikationen mit umfasst.
Die FSFE zeichnete nach, wie sich Kernpunkte des revidierten Europäischen Rahmenprogramms zu Interoperabilität über einen gewissen Zeitraum hin veränderten . Eine Version des Dokuments war Grundlage einer öffentlichen Erhebung im Sommer 2008. Die Analyse der FSFE zeigt detailliert auf, wie von dieser Basis ausgehend die Ansichten der BSA-Lobbygruppe den heutigen Entwurf des Textes beeinflussten. Zur gleichen Zeit ignoriert die Europäische Kommission weiterhin Kommentaren von Firmen, Gruppen und Individuen, die sich für Offene Standards und Freie Software aussprechen.
"Die Europäische Kommission darf sich nicht zum Werkzeug einer bestimmten Interessengruppe machen lassen. Der gegenwärtige Entwurf ist genauso inakzeptabel wie die völlige Intransparenz des Prozesses, die zu diesem Text führte" so Karsten Gerloff, der Präsident der FSFE.
Auf diesem Hintergrund zeigen kürzliche Bemerkungen von Vizepräsidenten der Europäischen Kommission Siim Kallas, der für die Verwaltung zuständig ist, ein besorgniserregendes Desinteresse gegenüber Offenen Standards und Freier Software in Teilen der Kommission. Auf einer hochrangigen Pressekonferenz (Flash) am 19. November in Malmö, Schweden, äußerte Kallas, dass Freie Software ein Problem für die "Kontinuität der Geschäftswelt" darstelle. Er setzte Freie Software mit einem Wikipedia-Artikel gleich und merkte an: "im Wikipedia-Text sehen Sie in Klammern und Fußnoten, dass Information geprüft oder bestätigt werden sollte [...], und wenn Sie Open Source benutzen, benötigen Sie Sicherheit darüber, was passieren wird, wenn Sie auf der gleichen Arbeitsweise aufbauen."
Die FSFE zeigt sich sehr besorgt über diese Anmerkungen. "Herr Kallas lästert über einen ganzen Sektor der Europäischen IT Branche", stellt Gerloff fest. "Entweder arbeitet Herr Kallas aktiv gegen Freie Software und Offene Standards, oder er kennt sie überhaupt nicht. Beides lässt sich bei einem Vizepräsidenten der Europäischen Kommission nicht rechtfertigen, wenn er zudem noch zuständig für die Verwaltung der Kommission ist."
Elmar Geese, Vorsitzender des Linux-Verbands, einer deutschen Vereinigung von Freie-Software-Betrieben mit über 80 Mitgliedern, zeigt sich überrascht angesichts Herrn Kallas' Bemerkungen. "Wir wissen nicht, wer Herrn Kallas dazu rät, solche Aussagen zu tätigen. Für mich klingt das wie die FUD-Propaganda (Verbreitung von Furcht, Unsicherheit und Zweifel) vor zehn Jahren. Wir laden Herrn Kallas dazu ein, sich über die Freie-Software-Industrie zu informieren. Ich bin mir sicher, dass das seine Einstellung ändern wird."
Jan Wildeboer von Red Hat EMEA weist Kallas' Bemerkungen zurück. "Im Vergleich zu vielen proprietären Alternativen zeigt Freie Software, dass sie nicht nur Geld spart, sondern auch Lösungen auf höchstem technischen Niveau bietet. Die Nutzung Freier Software in unternehmenskritischen Bereichen auf der ganzen Welt beweist ihre Qualität."
Solche Aussagen seitens der Europäischen Kommission spielen den Kritikern der neuen Version des EIF in die Hände. Die FSFE betont, dass das ursprüngliche EIF gute Dienste als Richtschnur für den öffentlichen Sektor in Europa gedient hat. Obwohl es nur eine Empfehlung darstellt, wurde es zu einer bedeutenden Referenz in Europa und darüber hinaus. Wen es überarbeitet werden muss, sollte das neue Dokument die Interoperabilität eher durch die Eigenständigkeit Offener Standards verbessern, als proprietäre Software und Spezifikationen zu begünstigen. Die Kommission sollte zur früheren Version des Dokuments zurückkehren und von dort erneut beginnen. Dabei sollte sie sicherstellen, dass diese Mal Kommentare von allen Seiten die gebührende Aufmerksamkeit zugeteilt wird.
Wildeboer von Red Hat stimmt in diese Kritik ein: "Es ist gut zu sehen, wie die EIFv2 nun einer genaueren Prüfung unterzogen wird. Wir brauchen eine starke Betonung von Interoperabilität, basierend auf Offenen Standards. Die durchgesickerte Version des Dokuments zeigt, wie ein Mangel an Transparenz dieses Ziel verhindern kann. Gerade jetzt sollten wir uns einige ernste Fragen stellen. Ich vertraue voll und ganz darauf, dass die Kommission die Ziele der EIFv1 wieder aufgreifen wird. Offene Standards und Offene Spezifikationen sind Grundbedingungen für Interoperabilität."
Der Präsident der FSFE, Karsten Gerloff, fordert: "Wenn ein Mitgliedsstaat der Europäischen Union die Glaubwürdigkeit der Europäischen Institutionen bewahren will, sollte er die momentane Fassung des EIF zurückweisen. Stattdessen sollte er der Kommission dabei helfen, einen besseren Entwurf zu verfassen, der Offene Standards an erste Stelle und ins Zentrum setzt."